Jena/Pisa. Als Proteinhomöostase werden die Prozesse bezeichnet, die an der Synthese und Faltung, dem Transport und der Lokalisierung sowie dem Abbau des gesamten Proteinsatzes in der Zelle - dem Proteom - beteiligt sind. Die Regulierung dieses komplexen Zusammenspiels ist für alle lebenden Organismen enorm wichtig, da Störungen Einfluss auf die Lebensspanne haben und zu alternsbedingten Erkrankungen beitragen.
Neurodegenerative Erkrankungen, wie die Alzheimer´sche Neurodegeneration, ALS und Parkinson, sind durch Schädigung von Neuronen (Zellen des Nervensystems) und/oder des Rückenmarks gekennzeichnet. Diese Erkrankungen zeigen gemeinsame Merkmale: Sie treten in der Regel im mittleren bzw. späteren Lebensalter auf und gehen mit einer Anhäufung von Proteinaggregaten in den Nervenzellen einher. Mit der Zunahme von Menschen, die in unserer Gesellschaft immer älter werden (demographischer Wandel), werden diese Krankheiten immer häufiger auftreten. Daher ist die Suche nach Behandlungsmöglichkeiten zur Minimierung neurodegenerativer Schäden ein dringendes medizinisches und gesellschaftliches Anliegen, das entscheidend von der Beantwortung der Frage abhängt, wie und warum sich Proteinaggregate während der Gehirnalterung bilden.
Ein internationales Team unter Leitung von Forschern des Leibniz-Instituts für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena und der Scuola Normale Superiore in Pisa, Italien, mit dem Centre for Misfolding Diseases in Cambridge, UK und der National Hellenic Research Foundation in Athen, Griechenland, hat mit modernsten transkriptomischen und proteomischen Methoden nun die zeitliche Abfolge molekularer Ereignisse untersucht, die zum Verlust der Proteinhomöostase während der Hirnalterung führen. Um die Mechanismen zu untersuchen, die die Störung der Proteinhomöostase auslösen, verwendeten sie für ihre Studien den Türkisen Prachtgrundkärpfling (Nothobranchius furzeri, Killifisch) als Alternsmodell. Diese Fischart ist das am kürzesten lebende Wirbeltier, das unter Laborbedingungen gezüchtet werden kann und hat eine Lebensdauer von nur 3-12 Monaten. Alternsabhängige Prozesse sind bei dieser Art verstärkt, so dass im Vergleich zu anderen Modellorganismen Veränderungen in der Konzentration von RNAs und Proteinen leichter zu erkennen sind. Zudem ahmt der Fisch während des Alternsprozesses Pathologien des Menschen genau nach und ist daher ein sehr gutes Wirbeltiermodell, um alternsbedingte neurodegenerative Erkrankungen zu untersuchen.
Keine Korrelation mehr zwischen Proteinen und RNAs während des Alterns
„Um die molekularen Ereignisse während des Alterns zu identifizieren, die für den Verlust der Proteinhomöostase während der Gehirnalterung verantwortlich sind, wendeten wir die massenspektrometriebasierte Proteomik in Kombination mit der RNA-Sequenzierung an und analysierten die Proteinaggregate in den Gehirnen von Killifischen unterschiedlichen Alters“, erläutert Dr. Alessandro Ori die Studie, die jetzt im Journal Molecular Systems Biology erschienen ist. Dazu untersuchten die Forscher die Gehirne von Killifischen 3 verschiedener Altersgruppen: junge geschlechtsreife Fische (5 Wochen nach dem Schlupf, wph), erwachsene Fische ohne Alternsmerkmale (12 wph) und alte Fische, die bereits Anzeichen von Neurodegeneration zeigten (39 wph).
Boten-RNAs tragen die genetische Bauanleitung von Proteinen und werden in der Zelle vom Ribosom verwendet, um Proteine herzustellen; biologisch aktive Moleküle. „Die Messung des RNA-Levels ist einfacher, als die des Protein-Levels, so dass unter der Annahme, dass sich die betreffenden Proteine in die gleiche Richtung ändern, Wissenschaftler sehr oft Veränderungen des RNA-Levels messen. Erstaunlicherweise war das erste Ergebnis unserer Studie, dass während des Alterns fast die Hälfte der Proteine in entgegengesetzter Richtung in Bezug auf ihre entsprechende RNA reguliert wird - eine echte Überraschung!“, berichtet Prof. Alessandro Cellerino von der Scuola Normale Superiore in Pisa, Italien.
Alternsbedingter Verlust der Stöchiometrie essentieller Proteinkomplexe
"Beim Vergleich der Daten für die verschiedenen Altersgruppen stellten wir fest, dass rund die Hälfte der etwa 9000 Proteine, die wir quantifizieren konnten, vom Alternsprozess betroffen sind", erklärt Dr. Ori, Gruppenleiter am FLI. Die alternsbedingten Veränderungen führten zu einer abnormalen Regulierung von Proteinuntereinheiten, die Proteinkomplexe bilden; d.h. den „Maschinen“, die für alle zellulären Aktivitäten verantwortlich sind. Die Proteinkomplexe bestehen aus verschiedenen Proteinen, die in einem bestimmten Verhältnis zusammengesetzt werden. Unsere Zellen verfügen über Mechanismen, die den korrekten Aufbau dieser Komplexe gewährleisten, indem sie die genaue (stöchiometrische) Anzahl spezifischer Untereinheiten regulieren. Mit zunehmendem Alter ist dieser streng regulierte Prozess jedoch beeinträchtigt.
Wie Dr. Ori ergänzt, "kommt es im Verlauf des Alterns zu einem fortschreitenden Verlust der Stöchiometrie der Proteinkomplexe, was sich vor allem auf die Ribosomen auswirkt, einen der wichtigsten Proteinkomplexe in der Zelle, der für die Produktion aller anderen Proteine verantwortlich ist". Die Forscher wiesen nach, dass in alten Gehirnen die Ribosomen nicht mehr richtig gebildet werden, sondern aggregieren, was möglicherweise lebenswichtige Funktionen in der Zelle beeinflusst. Diese Aggregation von Ribosomen tritt nicht nur bei alternden Killifischen auf, sondern auch bei alternden Mäusen, was darauf hindeutet, dass es sich um ein konserviertes Merkmal der Gehirnalterung handelt.
Abnahme der Proteasomenaktivität als frühes Zeichen der Gehirnalterung
"Die Aggregation von Ribosomen hat starke negative Auswirkungen auf das Überleben von Zellen. Deshalb wollten wir verstehen, was dem zugrunde liegt, und darüber hinaus ein frühes Ereignis während des Alterns finden, das die Aggregatbildung auslöst", erklärt Dr. Erika Kelmer Sacramento, eine der Erstautorinnen der Studie mit dem Fokus auf die Proteasome.
Proteasome sind Komplexe aus Proteinmolekülen, die alte oder fehlerhafte Proteine verdauen bzw. recyceln ("Müllhäcksler" der Zelle), und damit ein wichtiger Teil des Netzwerkes der Proteinhomöostase. Die Autoren wiesen nach, dass beim Altern die Proteasomenaktivität relativ früh und progressiv im Verlauf des Erwachsenenlebens reduziert wird und zum Verlust der Stöchiometrie der Proteinkomplexe führt. Durch nur 4-tägige Anwendung eines speziellen Medikaments gelang es ihnen, während des frühen Erwachsenenlebens der Killifische eine Reduktion der Proteasomenaktivität hervorzurufen und vorzeitige Alternserscheinungen einschließlich gestörter Verhältnisse mehrerer Proteinkomplexe zu beobachten.
Niedrige Proteasomenaktivität – Kurze Lebensspanne?
„Da das Altern ein Ergebnis eng miteinander verbundener Ereignisse ist, war es schwierig, frühe Auslöser zu finden. Die Abnahme der Proteasomenaktivität ist zwar ein frühes Anzeichen der Gehirnalterung, aber ist sie auch für die Alternsprozesse im gesamten Organismus relevant? Um dies zu beantworten, verglichen wir die individuellen Veränderungen der Proteasomenaktivität mit der individuellen Lebensspanne der Killifische“, erläutert Prof. Cellerino. Dazu korrelierten die Forscher die Daten der Genexpression von mehr als 150 Killifischen mit deren Lebensspanne. Die Analyse zeigte, dass auf Grundlage der Veränderungen in der Expression von Genen, die die Information für proteasomale Proteine tragen, die Lebensspanne der Individuen vorhergesagt werden konnte: Fische, die zu Beginn des Lebens eine stärkere Abnahme der Proteasomentranskripte zeigten, lebten deutlich kürzer als Fische, die in der Lage waren, die Proteasomenexpression aufrechtzuerhalten oder zu erhöhen. Dieses Ergebnis unterstützt die Hypothese, dass die Verminderung der Proteasomenaktivität ein früher Treiber des Alterns bei Wirbeltieren ist.
„Das FLI hat große Anstrengungen unternommen, den Killifisch als biologisches Alternsmodell zu entwickeln, was sich nun auszahlt, denn wir konnten mit unserer Studie an diesen Fischen neue molekulare Aspekte des Alterns aufzeigen: Wir wiesen erstmals nach, dass die Aufrechterhaltung der Proteasomenaktivität ein wichtiger Faktor für die korrekte Stöchiometrie von Proteinkomplexen ist, die an biologischen Schlüsselfunktionen wie Proteinsynthese, Proteinabbau und Energieproduktion beteiligt sind, und die Proteasomenaktivität die Lebensdauer bestimmt,“ fasst Prof. Cellerino die wichtigsten Ergebnisse zusammen. „Alle unsere Ergebnisse zur RNA- und Proteinregulation stehen als öffentliche Ressource zur Verfügung und können von der wissenschaftlichen Community genutzt werden, wie bereits die genomischen, transkriptomischen und epigenetischen Daten, die zuvor am FLI erarbeitet wurden.“
„Weitere Detailstudien sollen zeigen, ob die von uns beschriebenen Veränderungen während des Alterns zu einer funktionellen Beeinträchtigung der Proteinkomplexe beitragen oder ob sie vielmehr selbst eine Reaktion auf den Alternsprozess darstellen“, ergänzt Dr. Ori. Ob die Aufrechterhaltung oder Erhöhung der Proteasomenaktivität ein möglicher Weg ist, um Alternsmechanismen entgegenzuwirken und Organfunktionsstörungen im Alter zu verzögern, ist Gegenstand laufender bzw. zukünftiger Projekte.
Publikation
Erika Kelmer Sacramento, Joanna M Kirkpatrick, Mariateresa Mazzetto, Mario Baumgart, Aleksandar Bartolome, Simone Di Sanzo, Cinzia Caterino, Michele Sanguanini, Nikoletta Papaevgeniou, Maria Lefaki, Dorothee Childs, Sara Bagnoli, Eva Terzibasi Tozzini, Domenico Di Fraia, Natalie Romanov, Peter H Sudmant, Wolfgang Huber, Niki Chondrogianni. Michele Vendruscolo, Alessandro Cellerino, Alessandro Ori. Reduced proteasome activity in the aging brain results in ribosome stoichiometry loss and aggregation. Mol Syst Biol (2020)16:e9596. doi.org/10.15252/msb.20209596
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