Der Mensch hat mit etwa 22.000 Genen nicht mehr als eine Maus; und er hat sogar weniger Gene als die Ackerschmalwand, ein kleines Unkraut. Wie kann das sein? „Nicht die Anzahl der Gene macht den Menschen zur Krone der Schöpfung, sondern die Raffinesse und Vielfältigkeit bei der Verarbeitung der genetischen Information“, erklärt Dr. Karol Szafranski vom Fritz-Lipmann-Institut in Jena (FLI). Es gibt hierfür einen Mechanismus, der vor allem von höher entwickelten Organismen genutzt wird, um über unterschiedliche „Lesarten“ aus ein und derselben DNA-Sequenz unterschiedliche Genprodukte zu gewinnen: das „alternative Spleißen“. Dr. Szafranski und Dipl. Biol. Stefanie Schindler haben mit Kollegen an den Universitäten in Freiburg und Kiel ungewöhnliche Enden bei nicht-codierenden Gensequenzen (Introns) nachgewiesen, deren Existenz eine Grundregel des Spleißens auf den Kopf stellt.
Das „Spleißen“ spielt bei der genetischen Informationsübertragung zwischen DNA und RNA eine zentrale Rolle. Hierbei wird die Erstabschrift eines Gens („prä-mRNA“) in ein „reifes Transkript“ aus Boten-RNA (mRNA) umgewandelt. Nicht-codierende Gensequenzen (Introns) werden aus dem Primärtranskript herausgeschnitten und die verbleibenden Genabschnitte (Exons) zu einem durchgängigen Strang verknüpft. Das so entstandene reife Transkript (mRNA) dient später bei der Proteinbiosynthese als Bauanweisung. Beim alternativen Spleißen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die `relevanten´ Genabschnitte zu reifen Transkripten zu kombinieren. Auch nicht-codierende Sequenzen können Berücksichtigung finden oder Exons übersprungen werden. Die althergebrachte Vorstellung „ein Gen ergibt ein Protein“ gilt damit nicht mehr.
„Die Regulation dieser Zerlegungs- und Neukombinationsprozesse erfolgt über spezielle Markierungen“, so die Mitautorin Stefanie Schindler. Diese zeigen an, welche Abschnitte aus den Primärtranskripten entfernt werden und welche in die mRNA übernommen werden sollen. Damit Intron-Sequenzen erkannt werden können, müssen deren Enden als solche gekennzeichnet sein. Hierbei galt bisher die Regel: das linke Ende eines Introns ist durch die Basenabfolge Guanin-Thymin (GT) gekennzeichnet, das rechte Ende durch Adenin-Guanin (AG).
„Nun haben wir aber bei 36 Genen Introns gefunden, die ungewöhnlicherweise am rechten Ende auf TG enden“, sagt Dr. Szafranski. “Das ist eine klare Verletzung bestehender Spleiß-Regeln“. Die Wissenschaftler dachten zuerst an einen Datenfehler. „Nach mehreren Suchdurchläufen durch die humane Genomsequenz und einer aufwändigen experimentellen Validierung wurde aber klar: der Fund ist echt!“, freut sich auch Stefanie Schindler. Zudem konnte die Sequenzevolution über verschiedene Wirbeltiere nachvollzogen werden. Und man fand heraus: die ungewöhnlichen Enden der Introns existieren seit der Entstehung der Säugetiere so gut wie unverändert. Szafranski: „Für uns war das eine Sensation! Evolutionsbiologisch betrachtet passiert so was sicherlich nicht ohne Grund.“ Der Molekularbiologe sieht hierin einen deutlichen Hinweis auf die funktionelle Bedeutung dieser Ausnahme-Introns. Unter den 36 auffälligen Genen fanden die Forscher am FLI einige Gene, die als Tumorsuppressoren wirken, also Krebs verhindern. Von anderen dieser Gene ist bekannt, dass sie bei Fehlfunktion zu gestörter Embryonalentwicklung, z.B. Gaumenspalten, führen.
Die in „Genome Biology“ aktuell veröffentlichten Ergebnisse decken eine weitere erstaunliche Gemeinsamkeit auf. Alle gefundenen Fälle zeigen, dass die Introns immer in zwei Varianten aus den Primärtranskripten entfernt werden können. Bei der einen Variante wird das Intron-Ende im Einklang mit den herrschenden Spleißregeln durch ein `klassisches´ AG festgelegt. Bei der neu entdeckten Variante ist das Ende durch das ungewöhnliche TG markiert.
Die vorliegenden Daten zeigen: Auch wenn die AG-Position nicht direkt als Schnittstelle beim Spleißen zum Tragen kommt, spielt sie doch in einem Zwischenschritt der Spleißreaktion eine tragende Rolle. „Dieser Befund mutet auf den ersten Blick etwas paradox an“, stellt Karol Szafranski fest. Es sieht so aus, als müsse eine AG-Stelle vorhanden sein, damit der Spleißvorgang überhaupt anlaufen kann. Ist der Prozess erst einmal in Gang gesetzt, wird die Spleißreaktion vermutlich verzögert und auf die ungewöhnlichen TG-Enden umgeleitet. Die Forscher nehmen an, dass durch dieses `verzögerte Spleißen´ die Verarbeitung der Primärtranskripte in reife Transkripte zeitlich gesteuert werden kann. So wäre es beispielsweise möglich, die mRNA gezielt vor oder nach der Zellteilung `reifen´ zu lassen.
Derzeit fahnden die Forscher nach den Proteinen, die mit den jeweiligen AG- und TG-Spleißvarianten verbunden sind. Wie unterscheiden sich diese Proteine in der Funktion? Offen ist zudem, wie die Nutzung der AG- und TG-Spleißstellen gesteuert wird. Könnte die Wahl bestimmter Spleißstellen gezielt manipuliert werden, um letztendlich bestimmte Erbkrankheiten oder Tumore zu behandeln? Die gefundene `Regelverletzung´ hat also beträchtliches medizinisch-therapeutisches Potential. Und nicht zuletzt trägt sie auch dazu bei zu belegen, warum der Mensch der Ackerschmalwand zumindest genetisch gesehen überlegen ist.
Die Arbeiten werden durch das Jenaer Zentrum für Bioinformatik (JCB), das Nationale Genomforschungsnetz (NGFN) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Publikation
Szafranski K, Schindler S, Taudien S, Hiller M, Huse K, Jahn N, Schreiber S, Backofen R, Platzer M. Violating the splicing rules: TG dinucleotides function as alternative 3' splice sites in U2-dependent introns. Genome Biol.2007, 8(8), R154. doi:10.1186/gb-2007-8-8-r154