Was hatten es die Großeltern gut mit ihrer Ruhe und den klar geregelten, bewältigbaren Aufgaben, denken viele. Heute, so das allgemeine Gefühl, nimmt der Stress immer mehr zu, müssen mehr Aufgaben in kürzerer Zeit bewältigt werden und wird selbst die Freizeit mit ihrem Überangebot häufig als Belastung wahrgenommen.
Doch bereits im 19. Jahrhundert hat ein "anhaltender Prozess der Beschleunigung" begonnen, der andauert, sagt Prof. Dr. Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Der Soziologe ist daher der Meinung, dass man die Moderne nur verstehen kann, wenn man die zunehmende Beschleunigung in allen Bereichen der Lebenswelt betrachtet. Über "Beschleunigung - Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne" hat sich Rosa habilitiert - und wird für diese grundlegende Publikation am heutigen Donnerstag (01.02.) in Ilmenau mit dem Thüringer Forschungspreis 2006 ausgezeichnet. Prof. Rosa teilt sich den Preis im Bereich Grundlagenforschung mit Dr. Helen Morrison vom Leibniz-Institut für Altersforschung - Fritz-Lipmann-Institut e. V. in Jena. Außerdem geht der mit insgesamt 21.000 Euro dotierte Preis in der Kategorie Grundlagenforschung an zwei Forschergruppen der TU Ilmenau.
Rosa, der über 20 Publikationen zur Zeit-Problematik veröffentlicht hat, sieht den Preis zum einen als "Bestätigung meiner eigenen langjährigen Forschungen". Zum anderen sei er auch eine "Bestätigung der Sozial- und Geisteswissenschaften überhaupt und der von Jena im Besonderen", sagt der Preisträger.
Beschleunigung ist in der Moderne in allen Bereichen sichtbar, so Rosa. Was früher noch über Generationen anhielt, verändert sich heute innerhalb kürzester Zeiträume. Lebenspartner wechseln ebenso wie die Jobs, nennt er zwei Beispiele. Alles ist zunehmend und gleichzeitig in Bewegung und am Ende der chaotischen Veränderung steht der "rasende Stillstand", prophezeit Rosa. Wann das sein wird, wagt er nicht vorherzusagen, denn "Menschen sind extrem anpassungsfähig". Dass die Beschleunigungsspirale für Individuen wie die Gesellschaft insgesamt verhängnisvolle Konsequenzen haben kann, steht für ihn fest. "Die Angst nimmt zu, abgehängt zu werden oder schon abgehängt worden zu sein", hat er bei den Menschen beobachtet. Aber das hohe Tempo der sozialen Entwicklung stellt auch die Politik vor neue Probleme: "Die Demokratie ist heute zu langsam", ist Rosa überzeugt, denn sie reagiere nur noch und hinke hinterher.
Die Verlierer stehen fest: Es sind die "Zwangsentschleunigten". Das sind Kranke ebenso wie Arbeitslose, aber auch ganze Kontinente wie Afrika - die den Beschleunigungsprozess nicht (mehr) mitmachen (können). In der Konsequenz steigen die Ängste, die Gewaltneigung und die Depressionen. Und wo es nicht zu Krankheit oder purer Gewalt kommt, da verschärfen sich die "kulturellen Integrationsprobleme": sowohl zwischen den Generationen als auch zwischen den Zwangsentschleunigten und den im Beschleunigungssystem gefangenen Menschen.
Dass Zeitknappheit ein strukturelles gesellschaftliches Problem ist, entlastet aber auch das Individuum, macht Rosa Hoffnung - wenn sich der Mensch seiner Ohnmacht bewusst wird. Konkreter rät der Jenaer Zeit-Experte dazu, "mentale Techniken zu lernen". "Es fällt heute schwerer, sich auf ein Thema zu konzentrieren", hat Rosa bemerkt und befürwortet einen zeitweiligen "Rückzug in Entschleunigungsoasen". Allerdings sollte auch hier die Schere zwischen Stress und Bewegungslosigkeit nicht zu groß werden, sagt Rosa und empfiehlt wirkliche, bewusste Entspannung, die auch aus Bergwandern oder Schwimmen bestehen kann.
Doch das Thema Zeit ist nicht alles, was den Lehrstuhlinhaber für Allgemeine und Theoretische Soziologie der Universität Jena umtreibt - auch wenn er überlegt, sich vom Preisgeld ein neues Teleskop zu kaufen, da dieses den Blick in andere Zeiten ermöglicht. Längst hat der Jenaer Soziologe neue Forschungsfelder für sich entdeckt: Die Frage, ob der Mensch sich in der Welt getragen oder in sie geworfen fühlt, beschäftigt ihn derzeit vor allem. Welche Ursachen und Folgen haben diese unterschiedlichen Lebensauffassungen und -wahrnehmungen? Und woraus leiten sich diese zwischen den Geschlechtern, unterschiedlichen sozialen Gruppen und verschiedenen Individuen beobacht- und messbaren anders gearteten Grundhaltungen zur Welt und zum Leben ab?
"Das sind die Fragen der Gegenwart und vor allem der Zukunft", sagt Rosa über diese Forschungen. "Mich interessiert, auf welche Weise die Globalisierung die Art unseres 'In-die-Welt-Gestelltseins' verändert". Doch heute, so der Jenaer Soziologe, "freue ich mich vor allem über den Thüringer Forschungspreis".