Zeichnet sich bei einer Schwangeren eine drohende Frühgeburt ab, so erhält sie häufig Glucocorticoide, um die Reifung der Lunge des Babys zu beschleunigen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass das Baby atmen kann, wenn es doch zu früh ins Leben starten muss. Doch welche anderen Auswirkungen hat die Gabe dieser Stresshormone, zu denen auch das Kortisol gehört, für die Gesundheit im späteren Leben?
„Wir wissen, dass diese Kinder später weniger stresstolerant sind und sich schlechter konzentrieren können als Alterskameraden, deren Mütter keine Glucocorticoide erhielten“, so Professor Matthias Schwab über die Ergebnisse früherer Studien. „Die Regulierung der Stresssignale wird nachhaltig gestört, was möglicherweise zur vorzeitigen Alterung insbesondere des Hirns beiträgt“, erklärt der Neurologe. Die Untersuchungen belegen, dass auch Stress, wie ihn jede Schwangere erleben kann, die Hirnentwicklung beim Ungeborenen stört. Solche Stresssituationen können etwa bei psychischer Belastung oder bei moderater Mangelernährung auftreten, z.B. durch zu wenig Nahrungsaufnahme der Mutter oder eine Plazentastörung, die bei älteren Schwangeren nicht ungewöhnlich ist. Und auch bei Herz-Kreislaufsystem und Stoffwechsel scheint der mütterliche Stress die Weichen für ein erhöhtes Krankheitsrisiko zu stellen, für Bluthochdruck und Diabetes mellitus beispielsweise.
Kinder gestresster und fehlernährter Mütter
Das Ausmaß dieser Prozesse, ihre Mechanismen und die Folgen für Alterserkrankungen wie Schlaganfall, Depression oder kognitive Störungen wollen Neurologen des Universitätsklinikums Jena jetzt systematisch untersuchen. Dazu arbeiten sie in einem von der Europäischen Union mit drei Millionen Euro geförderten Projekt mit Molekularbiologen, Psychologen, Fetal- und Neurophysiologen in fünf europäischen Ländern und den USA zusammen.
Basis für die Untersuchungen sind gut dokumentierte Risikogruppen: Aus ihren früheren Studien haben die Jenaer Neurologen Kontakt zu einer Gruppe im Uniklinikum geborener, jetzt etwa zehnjähriger Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft mit Glucocorticoiden behandelt wurden. Psychologen der Katholischen Universität im belgischen Leuven betreuen Mütter, die in der Schwangerschaft unter psychischen Stress litten. Von deren Kindern sollen eine Gruppe Zweijähriger und eine Gruppe etwa 25-Jähriger in die Studie aufgenommen werden. „Eine einzigartige Gruppe, um die Effekte von Stress im Mutterleib im Alter zu untersuchen, sind Senioren, die im Holländischen Hungerwinter’ während der deutschen Besatzung der Niederlande im Winter 1944/45 geboren wurden“, so Matthias Schwab. Hinzu kommen entsprechend ausgewählte Kontrollgruppen.
Psychologische Tests und modernste Bioanalytik
Sie alle werden in ausgeklügelten Tests und mit modernster Analytik auf ihr biologisches Alter, insbesondere auf die Leistungsfähigkeit und das funktionelle und strukturelle Alter ihres Gehirns untersucht. Dazu erfassen die Mediziner zunächst den allgemeinen Gesundheitszustand und insbesondere für die älteren Probanden altersrelevante Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme, neurodegenerative Erkrankungen, Schlaganfälle oder depressive Störungen. Die Studienteilnehmer müssen altersangepasste kognitive Tests und Untersuchungen der Stresstoleranz absolvieren.
Anhand der Magnet-Resonanz-Daten können Jenaer MRT-Spezialisten um Dr. Christian Gaser die Hirnstruktur modellieren und so Aussagen über das biologische Alter des Gehirns treffen. Einen weiteren Hinweis auf das tatsächliche biologische Alter der Probanden sollen die Telomere liefern. Die Länge dieser Chromosomenden, die sich bei jeder Zellteilung verkürzen, vermessen Kooperationspartner aus Madrid. Außerdem werden Bioanalytik-Spezialisten aus Innsbruck das Blut der Probanden auf das Muster der Stoffwechselprodukte screenen, um so Rückschlüsse auf Besonderheiten in der Stoffwechselaktivität ziehen zu können.
Ursache sind epigenetische Regulationsprozesse
Mit dem großen Analyseaufwand wollen die Neurologen in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern vom Fritz-Lipmann-Institut für Altersforschung in Jena nachweisen, dass epigenetische Regulationsprozesse für die verfrühte Alterung verantwortlich sind also nicht die genetische Information selbst, sondern ob und wie diese abgelesen und realisiert wird. „Diese Prozesse sorgen dafür, dass die Empfindlichkeit der Glucocorticoid-Rezeptoren, die den Kortisolspiegel im Blut messen und regulieren, wesentlich herabgesetzt wird“, erklärt Matthias Schwab. „Das führt dazu, dass zeitlebens vermehrt Stresshormone ausgeschüttet werden; dieser Dauerstress lässt dann den Blutdruck steigen und kann Depressionen auslösen.“
Das gesamte Untersuchungsprogramm durchlaufen nicht nur die menschlichen Probanden, sondern auch Nager und eine Gruppe Paviane, die im texanischen San Antonio leben und deren Mütter während der Schwangerschaft gezielt gestresst wurden. Das ermöglicht den Wissenschaftlern, die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse von Tier auf Mensch einzuschätzen. Denn sie wollen noch weiter gehen. In experimentellen Studien werden sie nach den Schwangerschaftsabschnitten suchen, in denen das sich entwickelnde Gehirn besonders empfindlich auf Stress reagiert. Und sie werden versuchen, mit pharmakologischen Wirkstoffen gegen die erhöhte Stressempfindlichkeit und die daraus resultierende größere Anfälligkeit für Alterserkrankungen vorzugehen. „Das könnte der Ausgangspunkt für Vorsorgemaßnahmen sein, die schon während der Schwangerschaft auf ein langes Leben in Gesundheit abzielen, und für eine Therapie gegen vorzeitige Alterungsprozesse“, so Professor Schwab.